Zukunft Handel

Lehren aus Corona ziehen

Lehren aus Corona ziehen

Für einen zukunftsfähigen und nachhaltigen Handel
Einzelhandel Discounter Supermarkt Lebensmittel Handel Einkaufswagen Alexas_Fotos, Pixabay.com Einzelhandel Discounter Supermarkt Lebensmittel Handel Einkaufswagen

Der Handel in Deutschland ist im Umbruch. Nicht erst seit der Pandemie nimmt insbesondere die Bedeutung des Online-Handels stetig zu, und die Ausweitung der Plattform-Ökonomie stellt auch uns als Gewerkschaft vor neue Herausforderungen. Es ist davon auszugehen, dass diese Entwicklungen nicht umkehrbar sind, so dass unsere Aufgabe darin besteht, Antworten auf die veränderte Situation zu finden. Es kann nicht darum gehen, ein Zurück zur alten „Normalität“ eines ausbeuterischen und sozial wie ökologisch blinden Wirtschaftssystems zu fordern. Wir wollen eine Politik, die soziale Ungleichheit, die Prekarisierung des Arbeitsmarktes und den fortschreitenden Raubbau an der Natur überwindet. Wir können dabei auch auf ein verändertes Verhalten vieler Kundinnen und Kunden setzen, für die Nachhaltigkeit, soziale und ökologische Aspekte bei Kaufentscheidungen zunehmend bedeutsam werden. Entscheidend für eine zukunftsfähige Entwicklung des Handels wird es sein, neue Schritte zu wagen. Das kann nur in enger Zusammenarbeit mit den Beschäftigten, den betrieblichen Interessenvertretungen sowie der Tarifgewerkschaft ver.di gelingen, denn sie sind es, die die Lage in den Unternehmen und Filialen sowie die Kundinnen und Kunden genau kennen.

Der Einzelhandel – selbstverschuldete Krise

Vor allem im Einzelhandel herrscht ein dramatischer Verdrängungs- und Vernichtungswettbewerb, der von den großen Konzernen betrieben wird. Immer mehr große Einkaufszentren und ein Übermaß an Verkaufsflächen führen nicht zu mehr Vielfalt und Angebot, sondern dienen der Expansion der großen Ketten und Konzerne. Sie drücken immer mehr kleine und mittelständische Unternehmen an die Wand, gefährden so die Vielfalt der Branche, bringen tausende Arbeitsplätze in Gefahr und stellen ein wachsendes Risiko für die Nahversorgung in Stadt und Land dar. Dagegen braucht es wirksame Maßnahmen zur Eindämmung der Macht- und Marktkonzentration der großen Konzerne, deren Opfer vor allem die Beschäftigten sind.

Weiter verschärft wird die Situation durch die immer umfangreichere Ausweitung von Öffnungszeiten bis in die Nachtstunden und am Wochenende. Die Folgen für die Kundinnen und Kunden scheinen auf den ersten Blick positiv, auf den zweiten bedeuten sie schlechtere Planbarkeit durch uneinheitliche Öffnungszeiten. Weitaus dramatischer sind jedoch die gesellschaftlichen Folgen.

Mein Sonntag ist mir heilig Allianz für den freien Sonntag Mein Sonntag ist mir heilig

In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten hat sich gezeigt, dass eine immer weitere Ausdehnung der Öffnungs- und damit der Arbeitszeiten kein geeignetes Mittel gegen Krisenerscheinungen im Einzelhandel ist. Die „Liberalisierung“ der Ladenöffnungszeiten hat den Verdrängungs- und Vernichtungswettbewerb nur weiter verschärft. Existenzsichernde Vollzeit-Arbeitsplätze wurden dagegen nicht geschaffen. Von solchen Maßnahmen profitieren in erster Linie die großen Ketten und Konzerne, während kleinere Unternehmen von höheren Personal- und Sachkosten überfordert und Umsätze lediglich zeitlich verschoben werden. Insbesondere die permanenten Versuche, den Sonntag zu einem regulären Werktag zu degradieren und die Läden auch am siebten Tag der Woche zu öffnen, sind gefährlich für die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten, aber auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt. Nötig ist deshalb ein Zurückdrehen dieser Fehlentwicklung. Notwendig sind zuverlässige Öffnungszeiten, die es den Kundinnen und Kunden erlauben, ihre Einkäufe zu planen – ohne Öffnungen an Sonn- und Feiertagen oder in den Nachtstunden.

Das Bundesverwaltungsgericht hat im Januar 2021 letztinstanzlich festgestellt, dass auch Sondergenehmigungen von Sonntagsarbeit bei Handelsunternehmen wie Amazon rechtswidrig sind. Wir werden den Widerstand gegen Sonntags- und Spätöffnungen und Nachtarbeit gemeinsam mit unseren kirchlichen Bündnispartnern fortsetzen und ausbauen. 

Gleichzeitig bauen die Handelsunternehmen Personal ab oder reduzieren das Arbeitszeitvolumen um Kosten zu senken – für die Beschäftigten bedeutet das zunehmende Arbeitshetze, für die Kundinnen und Kunden schlechtere Beratung und Serviceleistungen, auch weil die immer weiter steigenden Mieten insbesondere kleinere und mittlere Unternehmen zur Aufgabe zwingen. Die Stärke des stationären Einzelhandels ist jedoch die Beratung der Kundinnen und Kunden durch erfahrene und ausgebildete Beschäftigte. Einzelhandel bedeutet, die Waren anfassen, anprobieren, sich beraten lassen und dann einpacken und mitnehmen. Mit dem Verdrängen dieser Händler gehen nicht nur Arbeitsplätze verloren, es drohen auch Monokulturen, Uniformierung und Verödung in den Innenstädten, die so an Attraktivität verlieren und weniger Menschen anziehen – ein Teufelskreis, der weitere Arbeitsplätze kosten kann, zumal auch die großen und noch finanzstarken Unternehmen durch den Online-Handel unter Druck geraten.  Das ist für die gesamte Gesellschaft ein Verlust an Lebensqualität.

Ausbaden müssen das vor allem die Beschäftigten, weil ihre Arbeitsbedingungen stetig verschlechtert werden, weil ihre berufliche Existenz in Gefahr gerät. Immer mehr Unternehmen setzen auf angelernte und befristet angestellte Teilzeitkräfte, die flexibel zu den umsatzstarken Zeiten eingesetzt werden sollen und bei Umsatzschwankungen leichter gekündigt und ihrer Existenz beraubt werden können. Das erschwert immer mehr die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und trifft damit in besonderem Maße die Frauen, die in unserer Gesellschaft nach wie vor diejenigen sind, die den Großteil der Sorgearbeit in Betreuung, Erziehung und Pflege zu leisten haben. So werden Unsicherheit und Stress provoziert, die Arbeitsbedingungen verschlechtern sich in einem teilweise gesundheitsgefährdenden Ausmaß. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Ausbildungsplätze im Handel.

Der verschärfte Konkurrenzkampf geht zudem zu Lasten der Beschäftigten in den Zulieferbetrieben entlang der kompletten Wertschöpfungs- und Lieferketten, etwa indem Landarbeiter*innen in Asien, Afrika, Lateinamerika und Südeuropa mit sinkenden Einkommen und zunehmender Arbeitshetze zu kämpfen haben.

Die Gewinner dieser verheerenden Entwicklung waren und sind nicht die Kundinnen und Kunden, sondern Handelskonzerne wie Amazon oder die großen Ketten des stationären Lebensmittelhandels, die ihre während der Pandemie errungenen Extraprofite für einen weiteren Ausbau ihrer Marktbeherrschung einsetzen oder in Preiskämpfe mit den Konkurrenten investieren. Als ihre Lobbyisten agieren die Arbeitgeberverbände HDE (Handelsverband Deutschland) und BGA (Bundesverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen). Sie haben mit ihrer Politik rigoroser Deregulierung die Tarifflucht forciert und zum ruinösen Verdrängungskampf beigetragen.

Während der Pandemie agitier(t)en sie zudem immer wieder für eine Öffnung der Geschäfte und Einkaufszentren und forderten die Erlaubnis zu einer weiteren Ausweitung der Geschäftszeiten an den Wochenenden, ohne dabei Rücksicht auf die Entwicklung der Fallzahlen zu nehmen.

Der Groß- und Außenhandel – Schlagader der Wirtschaft

Streik der Beschäftigten im fränkischen Großhandel (06.06.19) ver.di FB 12 Streik der Beschäftigten im fränkischen Großhandel (06.06.19)

Der Handel in Deutschland ist undenkbar ohne den Groß- und Außenhandel als Bindeglied zwischen den Herstellern, der Industrie und dem Endverbraucher. Über den Großhandel in Deutschland mit seinen rund zwei Millionen Beschäftigten in 112.000 Unternehmen werden rund zwei Drittel aller Güter und Waren gehandelt. Damit ist er eine zentrale Schlagader der deutschen Wirtschaft. Allerdings ist auch der Großhandel stark von der Entwicklung der vergangenen Monate in Mitleidenschaft gezogen worden. Ein Teil der Beschäftigten musste in Kurzarbeit gehen und leidet unter den damit oft verbundenen Einkommensverlusten.

Generell sieht sich diese stark mittelständisch geprägte Branche großen Herausforderungen gegenüber, ohne dass dies in der Öffentlichkeit in ähnlicher Weise wahrgenommen wird wie im Bereich des Einzelhandels. So erobern (neue) Wettbewerber insbesondere aus dem Bereich der Plattform-Ökonomie bisherige Marktanteile des Großhandels und erhöhen damit den Druck auf weitere Unternehmenskonzentrationen. Zahlreiche Hersteller vertreiben ihre Produkte inzwischen über bekannte Online-Plattformen wie Alibaba, JD.com oder Amazon direkt an die Endkunden und umgehen so den Großhandel. Komplexere Innovationen (z.B. Künstliche Intelligenz, Datengetriebene Geschäftsmodelle/Plattformen, Augmented Reality, etc.) laufen noch an vielen Großhandelsunternehmen vorbei.

Unter Plattform-Ökonomie verstehen wir im Normalfall von privaten Konzernen kontrollierte Netzwerke, die der Erfüllung verschiedenartiger Aufgaben dienen. Bekannte Beispiele für große Plattformen sind Google, Facebook oder YouTube, aber auch der Fahrtenvermittler Uber oder der Anbieter von Übernachtungsmöglichkeiten AirBnB. Ihr eigentliches Hauptgeschäft ist das Sammeln und Verkaufen von Daten und persönlichen Informationen ihrer Nutzerinnen und Nutzer. Der Wert der einzelnen Plattform steigt in dem Maße, je mehr Kundinnen und Kunden sich ihnen anschließen– und je weniger Alternativen es für sie jeweils gibt. Deshalb herrscht zwischen konkurrierenden Anbietern unweigerlich ein gnadenloser Verdrängungs- und Vernichtungswettbewerb, bis de facto nur noch ein Monopolist übrigbleibt. Es gilt die Regel: Wachse so schnell und brutal, dass keiner mehr gegen dich ankommt. Damit wird dem Wettbewerb zwischen verschiedenen Anbietern um das beste Angebot die Grundlage entzogen. Ansätze zu einer gesetzlichen Regulierung dieser neuen Wirtschaftsform gibt es bisher nur in unzureichendem Maße.

Der Online- und Versandhandel als wachsende Herausforderung

Einkaufswagen auf einem Laptop Preis_King, pixabay.com Online-Shopping

Im Handel spielt die Plattform-Ökonomie vor allem in Form digitaler „Marktplätze“ eine entscheidende Rolle. Über diese wird der direkte Kontakt zwischen Herstellern und Abnehmern vermittelt, ohne dass weitere Zwischenhändler eingeschaltet werden müssen. Dabei genießen die Betreiber solcher „Marktplätze“ oft eine besondere Machtposition. Einerseits bieten sie den Handelsunternehmen die Möglichkeit, ihre Waren unkompliziert und ohne großen logistischen Aufwand anzubieten. Andererseits diktieren sie die Rahmenbedingungen und Konditionen für die Nutzung ihrer Plattformen. Sie können u.a. die Transaktionen ihrer Kundinnen und Kunden und deren Daten auswerten und für eigene Geschäfte nutzbar machen. So wird Konzernen wie Amazon vorgeworfen, Erfolgsmodelle auf der eigenen Plattform zu kopieren und selbst anzubieten, wodurch der ursprüngliche Anbieter aus dem Markt gedrängt wird. Letztlich befördert die Plattform-Ökonomie auf diese Weise Monopolisierungstendenzen im Handel, weil an wenigen großen „Marktplätzen“ kaum noch ein Weg vorbeiführt.

Zudem verschärft die Plattform-Ökonomie die Prekarisierung der Arbeitsbeziehungen. Beschäftigte werden dazu degradiert, ihre Arbeitskraft über Apps der verschiedenen Plattformen (z.B. „Amazon Flex“) anbieten zu müssen. Soziale Absicherung, Errungenschaften der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung und gesetzliche Arbeitsschutzrichtlinien bleiben dabei oft auf der Strecke.

Zugleich entziehen sich die Unternehmen der Plattform-Ökonomie in weiten Teilen der Regulation durch nationalstaatliche Gesetze und Tarifverträge. Damit genießen sie Wettbewerbsvorteile nicht nur gegenüber den traditionellen Großhandelsunternehmen. Die Alternative kann jedoch nicht Deregulierung und Tarifflucht sein, die letztlich von den Beschäftigten bezahlt werden müsste. Notwendig ist, die „Spielregeln“ auch auf die neuen Player auszuweiten.

Ein Großteil des Online- und Versandhandels wirbt offensiv mit der Möglichkeit, Waren bei Nichtgefallen kostenfrei zurückzusenden. Dabei gelangt ein Großteil der Retouren nicht erneut in den Verkauf, sondern wird vernichtet und entsorgt, was zu einem erhöhten Müllaufkommen und Ressourcenverschwendung führt. Im Interesse des Umweltschutzes und eines nachhaltigeren Wirtschaftens brauchen wir zukunftsweisende Konzepte einer Beteiligung der Unternehmen. Wie diese ausgestaltet werden kann, muss diskutiert werden.

Digitalisierung und Automatisierung im Handel

Nach Angaben des Unternehmerverbandes HDE hat rund ein Drittel der Unternehmen die Pandemie genutzt, um die Präsenz auf zusätzlichen Vertriebswegen wie Online-Marktplätzen, Lieferservices oder Click & Collect auszuweiten. Was von vielen Unternehmen als Notlösung angegangen wurde, um den zeitweiligen Wegfall der Umsätze in den Ladengeschäften zumindest teilweise auszugleichen, kann zu einer nachhaltigen und erfolgversprechenden Strategie werden, wenn diese nicht zu Lasten des stationären Handels und der Beschäftigten geht.

Allerdings hat sich in den vergangenen 20 Jahren der Marktanteil mittelständischer Fachhändler einer Erhebung des Ibi-Research-Instituts zufolge von 32 auf 15,5 Prozent halbiert. Ein Großteil dieser (innerstädtischen) Händler agiert immer noch rein stationär. Notwendig ist, auch in diesem Segment den Einsatz neuer digitaler Technologien zu forcieren, um die Arbeit der Beschäftigten zu unterstützen und zu erleichtern. Von der Weiterentwicklung verschiedener Offline- und Online-Konzepte zu neuen Geschäftsmodellen können sowohl die Beschäftigten als auch die Kundinnen und Kunden und damit die (Innen-)Städte und Gemeinden profitieren. Es darf nicht heißen „für oder gegen Digitalisierung“, sondern „Gestaltung von Digitalisierung für Menschen und durch Menschen, für die Beschäftigten und durch die Beschäftigten“. Entscheidend ist eine tarifvertragliche Absicherung der neuen Entwicklungen. Die Mitbestimmung darf nicht erst bei der Installation neuer technischer und digitalisierter Prozesse beginnen, sondern muss bereits deren Ausgestaltung umfassen. Die Beschäftigten haben ein Anspruch darauf zu wissen, was beispielsweise im Algorithmus oder im Hintergrund digitalisierter Prozesse am Arbeitsplatz berücksichtigt und vorgegeben wird, anstatt zu Erfüllungsgehilfen der Technik degradiert zu werden. Ansatzpunkte sind dabei die menschengerechte Gestaltung technischer und digitaler Systeme, keine Verschlechterung bei der Mitbestimmung und keine Flucht aus der Tarifbindung, die Wahrung der Persönlichkeitsrechte der Beschäftigten und der Kund*innen, keine Leistungs- und Verhaltenskontrollen sowie eine Begleitung der Umstellung durch qualifizierte Aus- und Weiterbildungsangebote.

Bei der Verknüpfung und Verzahnung von stationären mit digitalen Angeboten besteht die Gefahr, dass die Beschäftigten zu Erfüllungsgehilfen der Maschinen werden. Wenn statt des Umgangs mit Kundinnen und Kunden, Verkaufs- und Beratungsgesprächen immer mehr monotone Abläufe den Arbeitsalltag prägen, trägt das zu Frust und Unzufriedenheit bei. Zudem stehen etablierte Vergütungsmodelle auf dem Prüfstand, etwa wenn es um Prämien geht, die beim Verkauf in den Filialen gezahlt werden. Einkommensverluste können sich die Kolleginnen und Kollegen nicht leisten und wir wehren uns gegen Versuche, im Zusammenhang mit der Konzentration auf den Onlinehandel allgemeine Einkommenskürzungen durchzusetzen.

Es besteht die Gefahr, dass Digitalisierung und Automatisierung zum Abbau von Arbeitsplätzen führen, weil menschliche Arbeitskraft effizienter eingesetzt oder sogar ganz ersetzt werden kann. Dem muss durch gezielte Förderung arbeitsplatzschaffender Innovationen und eine Umlenkung von Produktivitätsgewinnen in die Aus- und Weiterbildung der betroffenen Beschäftigten entgegengewirkt werden.

Nachhaltige Nachfrage stärken

Nachhaltig wirtschaften und handeln annca, Pixabay.com Nachhaltig wirtschaften und handeln  – Bild ist in der Seminar-Suche eingebunden

Notwendig ist ein grundsätzliches Umsteuern. Die Handelskonzerne haben sich in der Vergangenheit weniger an der Nachfrage und den Interessen der Kundinnen und Kunden orientiert, sondern darauf gesetzt, Wettbewerber aus dem Markt zu drängen und so eine Monopolstellung zu erlangen. Wir setzen dagegen auf eine soziale und ökologische Umwandlung des Handels, damit er wieder den Interessen der Gesellschaft dient. Notwendig dafür ist eine Neuausrichtung auch des stationären Handels. Den Beschäftigten muss die Möglichkeit gegeben werden, sich mit ausreichender Zeit und Ruhe um die Kundinnen und Kunden kümmern zu können. Wenn an der Beratung und dem Service gespart wird, führt dies mittel- und langfristig nur zu größeren Schwierigkeiten, der Handel gräbt sich so selbst das Wasser ab.

Die Erfahrungen der Pandemie haben offengelegt, dass eine zu starke Exportorientierung der Wirtschaft mit massiven Risiken verbunden ist. Nötig ist deshalb die Stärkung einer ökologisch und nachhaltig orientierten Binnennachfrage. Die Menschen müssen wieder mehr in die Lage versetzt werden, die für ihr Leben notwendige Ausgaben zu tätigen, ohne dabei auf Billigangebote setzen zu müssen. Diese werden viel zu oft durch Raubbau an der Natur, Ausbeutung von Menschen und hohen Folgekosten für die Gesellschaft und den Planeten ermöglicht. Das bedeutet, dass die Kaufkraft insbesondere von Menschen mit niedrigen Einkommen gestärkt werden muss. 

Der Handel hat ein ureigenes Interesse daran, dass die Einkommen der potentiellen Käuferinnen und Käufer wachsen. Dumpinglöhne verschärfen die Krise im Handel, während spürbare Gehaltssteigerungen auch für die mehr als 5,1 Millionen Beschäftigten im Handel direkte Auswirkungen auf die Umsätze der Unternehmen hätten. Höhere Einkommen bedeuten auch höhere Einnahmen für die Staats- und Rentenkassen durch steigende Steuerzahlungen. Dagegen fließt jeder Euro, der an die Konzerne geht, in Aktien, Dividenden, Konzentrationsprozesse und den Verdrängungswettbewerb.

Für ein Ende der Tarifflucht

Kaufhof Mannheim P1 Paradeplatz streikt gegen Tarifflucht und Personalabbau Helmut Roos Kaufhof Mannheim P1 Paradeplatz streikt gegen Tarifflucht und Personalabbau

Die bevorstehenden Tarifrunden im Einzel- und im Großhandel bieten eine gute Gelegenheit, den Unterbietungswettbewerb zu durchbrechen. Arbeit muss sicher und tariflich entlohnt, gesund und mitbestimmt sein. Notwendig ist eine Ausweitung der Mitbestimmungsrechte von Betriebsräten beim Arbeits- und Gesundheitsschutz, der Weiterbildung, digitaler Arbeit, dem Einsatz von Fremdpersonal, der Personalbemessung und der Beschäftigungssicherung. Dazu gehört, sachgrundlose und Ketten-Befristungen abzuschaffen sowie begründete Befristungen einzuschränken.

Tarifflucht steht dem entgegen und verschärft im Handel den Verdrängungs- und Vernichtungswettbewerb. Wir fordern deshalb, dass durch gesetzliche Anpassungen die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von abgeschlossenen Tarifverträgen wieder möglich gemacht wird. Staatliche Förderung und Unterstützung für Unternehmen muss an das Bestehen repräsentativer Tarifverträge gebunden werden, durch Hilfen dürfen keine prekären Bedingungen stabilisiert oder geschaffen werden. Zudem müssen sogenannte OT-Mitgliedschaften (Mitgliedschaften ohne Tarifbindung) in den Unternehmerverbänden rechtlich verboten werden.

In diesem Zusammenhang ist auch eine stärkere Regulierung der Organisationsformen nötig – viel zu lange haben sich Unternehmen durch formelle Tricks wie Stiftungsmodelle und andere Umgehungsstrategien der Mitbestimmung, der Tarifbindung und der Kontrolle durch Aufsichtsräte entzogen. Durch wirksame Gesetze und eine ausreichende Zahl von Kontrollen muss das Unterlaufen von Tarifstandards und anderen Normen z.B. durch Werkverträge verhindert werden. Minijobs müssen in sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze umgewandelt werden. In Konzernen mit kleinteiliger Filialstruktur muss die Einleitung von Betriebsratswahlen erleichtert werden. Außerdem fordern wir eine schnelle und spürbare Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns und von Leistungen der Grundsicherung.

Aber auch der Staat, Länder und Kommunen sind gefordert, mit entsprechenden Weichenstellungen zur Sicherung des Handels beizutragen. Gerade die Erfahrungen der vergangenen Monate haben eindringlich vor Augen geführt, zu welchen Problemen eine nur noch lückenhafte Grundversorgung in Wohnortnähe führt. Es ist aus sozialer wie ökologischer Sicht nicht hinnehmbar, wenn lebenswichtige Einkaufsmöglichkeiten nur noch mit dem Auto erreichbar sind.

Vor dem Hintergrund der durch die Pandemie verschärften Krise ist jedoch zunächst eine weitere Verschlechterung der Lage zu befürchten. Wichtig ist deshalb, durch kurz- und mittelfristige Maßnahmen weitere Arbeitsplatzverluste zu verhindern. Dabei ist die Politik gefordert, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. So würde eine Verlängerung des Insolvenzgeldbezugs von bisher drei auf sechs Monate Unternehmen, die in eine Schieflage geraten sind, den vielfach notwendigen Spielraum für eine Neuausrichtung und eine nachhaltige Sicherung des Unternehmens schaffen und die Sicherung der Arbeitsplätze ermöglichen. Zudem ist es wichtig, die Insolvenzordnung so zu ändern, dass die Sicherung der Arbeitsplätze als Ziel des Verfahrens festgeschrieben wird.

Die durch die Pandemie verursachte Unsicherheit wird durch die Bedrohung der eigenen wirtschaftlichen Existenz verschärft. Existenz- und Zukunftsangst sorgen jedoch für Konsumzurückhaltung und verschärfen damit die wirtschaftliche Lage u.a. im Handel weiter. Notwendig sind deshalb Maßnahmen, die den Betroffenen die Angst um den eigenen Arbeitsplatz und die eigenen Berufsperspektiven nehmen. Dazu beitragen können Tarifverträge zur Beschäftigungssicherung und Maßnahmen zur Qualifizierung der Beschäftigten. Auch Überbrückungshilfen, wie sie von der Bundesregierung zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen der Lockdowns während der Corona-Pandemie eingeführt wurden, können dazu einen wichtigen Beitrag leisten, wenn sie der Beschäftigungssicherung dienen. Notwendig dafür ist, dass sie schnell ausgezahlt werden und zudem klaren, einfachen und sicheren Regelungen unterliegen. Auch eine Verlängerung der Bezugsdauer von Insolvenz- und Transferkurzarbeitergeldern sowie die öffentliche Übernahme von Weiterbildungskosten können sinnvolle Beiträge sein.

Wir fordern die Einrichtung eines öffentlichen Transformationsfonds, der die notwendigen strukturellen Veränderungen im Handel unterstützt und dabei entstehende kurzfristige finanzielle Engpässe auffängt oder abfedert, um Maßnahmen zu Lasten der Beschäftigten zu verhindern sowie Arbeitsplätze und Einkommen zu sichern. Der Transformationsfonds soll finanziert werden durch Abgaben, die gezielt bei den Unternehmen erhoben werden, die von der aktuellen Branchenentwicklung profitieren.

Für lebenswerte Städte und Gemeinden

Straßenszene Fürth Herbing Straßenszene Fürth  – Straßenszene Fürth

Gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Akteuren wie den Bürgerinnen und Bürgern, den Kommunen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, der Umwelt- und Klimaschutzbewegung und kleinen und mittleren Einzelhändlern wollen wir an Konzepten für einen nachhaltigen und zukunftsfähigen Handel arbeiten, dessen Entwicklung nicht nur von den großen Konzernen und den von ihnen beherrschten Verbänden bestimmt wird. Dazu gehört zum Beispiel die Diskussion um Fehlentwicklungen in der Ansiedlungs- und Förderungspolitik vergangener Jahre. Durch sie wurden Flächenexpansion und das Etablieren großer Einkaufszentren außerhalb der Ortschaften gefördert, eine Folge war die Verdrängung kleiner Vor-Ort-Einkaufsmöglichkeiten.

Die Kommunen standen und stehen bei der Entscheidung über Ansiedlungsprojekte vielfach vor dem Dilemma, dass – sollten sie selbst das Projekt ablehnen – die Nachbargemeinde die Ansiedlung genehmigt und in der Folge die Einzelhandelslandschaft der eigenen Gemeinde mit den negativen Wirkungen konfrontiert wird; oder sie genehmigen das Projekt in der – meist falschen – Hoffnung auf höhere Steuereinnahmen. Diesen Druck, der im Kern einen „Wettlauf der Besessenen“ in Gang setzt – wie es der US-Ökonom Paul Krugman formuliert hat – zu begrenzen, muss eine Kernaufgabe von landesplanerischer Strukturpolitik sein. Es ist im Interesse aller Einwohnerinnen und Einwohner in Stadt und Land, dass die Innenstädte und Gemeinden attraktiv bleiben bzw. wieder zu sozialen Zentren werden, die Begegnung und Austausch unter den Menschen ermöglichen. Vielerorts ist ein Besuch in den Innenstädten oder Stadtteilzentren jedoch zum Beispiel für Familien mit Kindern kaum noch erschwinglich, weil es keine kostenfreien Freizeitangebote mehr gibt. Nur wenn ein Aufenthalt in der Innenstadt oder Gemeinde bezahlbar bleibt und es auch kostenfreie soziale Räume gibt, ist sie anziehend für Menschen aus allen Schichten. Der Handel ist ein Teil dieses Angebots, und er kann dabei durch Vielfalt, Service und Beratung, die sich qualitativ vom Onlinehandel unterscheiden, seine Position stärken.

Die Stadt gehört nicht einigen Immobilienkonzernen und Handelsketten, was in der Stadt und in der Gemeinde passiert, geht uns alle an – vor allem auch diejenigen, die dort arbeiten In diesem Sinne ist es notwendig, Gewerbemieten zu mindern und bezahlbaren Wohnraum in den Stadtzentren zu fördern. Leerstände sollten kreativ genutzt, weitere Flächenüberhänge vermieden und durch eine qualifizierte Ansiedlungspolitik gesteuert werden. Zugleich braucht es ein Mehr an Vielfalt und Erlebnis durch Konzepte und Akteure, die gemeinsam an der Umsetzung arbeiten.

Gute und gesunde Arbeit

Streikposten am 26. November 2020 vor Amazon in Bad Hersfeld Andreas Gangl Streik bei Amazon in Bad Hersfeld

Wir leben nicht, um zu arbeiten, sondern wir arbeiten, um leben zu können. Deshalb kämpfen wir für Arbeits- und Lebensbedingungen, die nicht krank machen. Eine immer stärkere Einschränkung von Ruhe- und Pausenzeiten, zunehmender Stress, ausufernde Kontrolle und Überwachung, fehlende Wertschätzung der Beschäftigten – es gibt viele Formen krankmachender Arbeit. Wir wehren uns dagegen und setzen uns ein für Tarifverträge, in denen gute und gesunde Arbeitsbedingungen festgeschrieben werden. Wir unterstützen die Beschäftigten und ihre Betriebsräte dabei, Regelungen zum Schutz der Gesundheit und zu ihrer Förderung durchzusetzen.

Auch die Erfahrungen der vergangenen Monate während der Pandemie zeigen, dass Gesundheitsschutz auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Wenn Unternehmen Vorbeugungsmaßnahmen unterlassen oder ungenügend umsetzen, müssen die Folgen oftmals von der gesamten Gesellschaft getragen werden. Wenn Unternehmen versuchen, gesundheitlich angeschlagene Beschäftigte aus dem Betrieb zu drängen, ist dies nicht hinnehmbar. Wenn Konzerne Sorgearbeit zum Beschäftigungshindernis machen, ist dies skandalös und darf nicht akzeptiert werden.

Noch ist der Einsatz für gute und gesunde Arbeit oftmals auf das jeweilige Unternehmen beschränkt. Wir setzen uns dafür ein, durch branchenweite tarifvertragliche Vereinbarungen einen verbindlichen Rahmen zu schaffen, auf den sich alle Kolleginnen und Kollegen stützen können.

Liefer- und Wertschöpfungsketten sozial, ökologisch und nachhaltig gestalten

Entlang der Lieferketten: Konferenz für internationale Solidarität Kay Herschelmann Entlang der Lieferketten: Tagung für internationale Solidarität

Den Handel zu verstehen ist unmöglich, ohne die gesamten Wertschöpfungs- und Lieferketten von den Produzenten bis zum Endverbrauch in den Blick zu nehmen. Wir müssen deshalb unsere Aufmerksamkeit auch auf die Lage außerhalb der deutschen Grenzen richten. Gerade in der Anfangszeit der Pandemie wurde deutlich, wie gefährdet die Lieferketten sind, wenn sie nur noch an kurzfristigen Profiten orientiert sind. Wichtig ist, dass die Handelsunternehmen in Deutschland Verantwortung für die Situation bei ihren Zulieferern übernehmen.

Ein Lieferkettengesetz, wie es das Bundeskabinett nun vereinbart hat und wie es noch vor der Bundestagswahl verabschiedet werden soll, ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Es ist das Ergebnis jahrelanger Bemühungen zahlreicher Organisationen, Bewegungen und Gewerkschaften, auch von ver.di. Allerdings ist die vorliegende Fassung noch unzureichend, da sie zu viele Ausnahmen zulässt. Sie bleibt sogar noch hinter den aktuell im Europäischen Parlament diskutierten Plänen für ein EU-Lieferkettengesetz zurück. Wir fordern deshalb weitere Nachbesserungen an diesem Gesetz.

Wichtig ist, dass die Gewerkschaften nun in die Lage versetzt werden, Betroffene von Menschenrechtsverletzungen vor deutschen Gerichten zu vertreten. Das ist ein weiterer Grund, die internationale Zusammenarbeit mit unseren Schwestergewerkschaften weltweit zu entwickeln und auszubauen.

Tarifverträge schützen

Gewerkschaftliche Politik muss immer auch die langfristige Perspektive der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, der Gesundheit und Lebensqualität der Beschäftigten im Blick behalten. Es sind die Unternehmen, die natürliche Ressourcen einsetzen, um private Gewinne zu generieren. Nachhaltigkeit, Umwelt- und Klimaschutz sowie der Gesundheitsschutz bleiben dabei oftmals auf der Strecke, trotz anderslautender Versprechungen und werbewirksamer Einzelmaßnahmen.

Deshalb müssen wir Produktions- und Arbeitsweisen, die zu einer erhöhten Belastung der Natur führen oder zu ihr beitragen, hinterfragen und Lösungen diskutieren. Es muss zu einem festen Bestandteil gewerkschaftlicher Tarifpolitik werden, alle Maßnahmen und Veränderungen auch auf ihre ökologischen und gesundheitlichen Auswirkungen zu überprüfen. So könnten in Tarifverträgen Arbeitszeitregelungen getroffen werden, die es den Beschäftigten ermöglichen, problemlos mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit und nach Hause fahren können, ohne auf eigene PKW angewiesen zu sein. Das kann auch zum Preis einer Einschränkung von Ladenöffnungs- oder Betriebszeiten geschehen, darf aber nicht zu Einkommensverlusten der Beschäftigten führen.

Gerade unter den Beschäftigten im Handel gibt es umfangreiches Wissen über die Folgen, die das Vorgehen der Unternehmen auf die Umwelt und die Gesundheit von Mensch und Tier hat. Diese Expertise aufzugreifen und für eine nachhaltige Weiterentwicklung der gesamten Branche einzusetzen, ist sinnvoll und wird noch nicht in ausreichendem Maße gemacht.

Ein zukunftsfähiger Handel ist notwendig für die Beschäftigten, die Menschen dieses Landes und die gesamte Gesellschaft.

Engagieren wir uns gemeinsam dafür, denn ohne uns kein Handel!