Die Arbeitgeberverbände des Handels - der Handelsverband Deutschland (HDE) und der Bundesverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen e. V. (BGA) führten Mitgliedschaften „ohne Tarifbindung“ (OT-Mitgliedschaften) ein. Außerdem lehnte die Unternehmerseite es seither ab, gemeinsam mit ver.di die Allgemeinverbindlichkeit der ausgehandelten Tarifverträge zu beantragen.
Seither ist die Tarifbindung im Handel dramatisch zurückgegangen. Inzwischen sind nur noch 28 Prozent der Beschäftigten im Einzelhandel und 33 Prozent der im Großhandel durch einen Branchen- oder Haustarifvertrag erfasst (Stand: 2019). 2010 waren es immerhin noch 50 Prozent! Für die nicht tarifgebunden arbeitenden Beschäftigten bedeutet das materiell unter anderem Löhne und Gehälter, die um bis zu einem Drittel unter denen der Kolleginnen und Kollegen liegen, die tarifgebunden arbeiten.
Ein 2014 erfolgter Versuch, durch das Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen zu vereinfachen, hat jedoch zu keinen spürbaren Verbesserungen geführt.
Zwar ist die Vorschrift entfallen, dass für eine AVE die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens die Hälfte der in der Branche bzw. dem jeweiligen Tarifgebiet tätigen Arbeitnehmer*innen zu beschäftigen haben, aber seither müssen beide Tarifparteien einen Antrag auf AVE stellen (zuvor nur eine) und im paritätisch von Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretungen besetzten Tarifausschuss ist weiterhin eine Stimmenmehrheit notwendig. Letzteres schafft de facto ein Vetorecht für die Unternehmerseite.
Unter direktem Verweis auf diese Gesetzeslage, seit deren Neuregelung im Jahr 2015 keine neuen Anträge auf AVE zu verzeichnen gewesen seien, hat der Bundesrat im Juni 2019 in einer Entschließung die Bundesregierung zu „Überlegungen“ aufgefordert, „wie die Rahmenbedingungen des Verfahrens zur Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen verbessert werden können“. Ein in diese Richtung weisender Antrag der Bundesländer Bremen, Berlin, Thüringen und Hamburg wurde 2021 im Bundesrat jedoch abgelehnt.
Vor diesem Hintergrund tritt ver.di in den Tarifrunden 2021 und im Bundestagswahlkampf für eine Stärkung der Tarifbindung und die Rückkehr zur Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen im Einzel- wie im Großhandel ein, um dadurch u.a. schlechte Arbeitsbedingungen und Altersarmut zu verhindern. Dazu fordern wir eine Änderung der geltenden Gesetze, um AVE zu erleichtern, und insbesondere die Abschaffung des Vetorechts der Unternehmen.
Der u.a. durch die Tarifflucht verursachte oder verschärfte Verdrängungswettbewerb im Einzelhandel schadet auch den Städten und Kommunen. Sichtbar wird dies u.a. durch verödende Innenstädte. Der HDE will diesem Missstand durch eine Ausweitung von Sonntagsöffnungen im Einzelhandel begegnen. Das lehnen wir strikt ab, weil es zu Lasten der Beschäftigten ginge, gleichzeitig aber die tieferliegenden Ursachen der Verödung nicht beseitigen würde.
Die auch durch die Tarifflucht verursachten Niedriglöhne in der Branche schaden auch der ganzen Gesellschaft. Weil Gehälter gezahlt werden, die für das Überleben nicht ausreichen, muss der Staat durch Sozialleistungen (Aufstockung) einspringen – das ist eine indirekte und nicht zu rechtfertigende Subvention der Handelsunternehmen! Im Ruhestand schließlich droht dadurch vielen Beschäftigten Altersarmut, die ebenfalls der Staat durch Transferleistungen lindern muss. AVE sind deshalb eine Form der Selbstverteidigung!